In diesem Blogbeitrag untersuche ich, inwiefern Erinnerungen an die Vergangenheit unsere Wahrnehmung in der Gegenwart beeinflussen können, am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann.
Ein Blogbeitrag von Lara Serin
Im Deutschunterricht haben wir uns mit dem literarischen Werk Der Sandmann von E.T.A Hoffmann beschäftigt, einem Werk aus der literaturgeschichtlichen Epoche, der Romantik. Die Romantik war eine Gegenbewegung zur Aufklärung. Während in der Aufklärung die Vernunft und der Fortschritt im Vordergrund standen, widmete sich die Romantik den Gefühlen, der Imagination und der Sehnsucht nach dem Unbekannten.
Die Erzählung beginnt mit einem Brief, den Nathanael an seinen Bekannten Lothar schreibt. Nathanael befindet sich zu dieser Zeit in einer anderen Stadt, wo er studiert, und hält einen regelmässigen Briefkontakt mit seiner Familie. Doch in diesem Brief schreibt er von etwas, das ihn zutiefst erschüttert hat: die Begegnung mit dem Wetterglashändler, Giuseppe Coppola, der in ihm offensichtlich die Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis aus seiner Kindheit weckt. Coppola wird von Nathanael als Nachfolger des unheimlichen Advokaten Coppelius aus seiner Kindheit wahrgenommen. Nathanael empfindet grosse Angst und verbindet sein traumatisches Erlebnis aus seiner Kindheit mit unklaren und bedrohlichen Gefühlen. Er empfindet ein Gefühl der Sehnsucht nach dem Unbekannten und will die Dunkelheit und das Geheimnisvolle verstehen und bewältigen, deswegen versucht er seine Angst zu rationalisieren, indem er sie mit Lothar und seiner Verlobten Clara teilt. Clara antwortet ihm aus einer beruhigenden, fast therapeutischen Perspektive und deutet seine Ängste als kognitive Verzerrungen. Sie versucht, die Angst von Nathanael durch eine positive Umdeutung und einen klaren Blick zu vermindern. Hier zeigen sich zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Ereignisse: Nathanaels emotionale und stark subjektive Wahrnehmung steht Claras rationaler und beruhigender Haltung gegenüber.
In der Erzählung wird somit die gesunde Wahrnehmung von Clara und die kranke Wahrnehmung von Nathanael gegenübergestellt. Die Wahrnehmung von Nathanael lässt sich dadurch erklären, dass das menschliche Gehirn die Tendenz hat eine sinnvolle Realität zu konstruieren. Wir Menschen neigen nämlich dazu, Widersprüche zu vermeiden, was zum Beispiel auch beim Lesen des literarischen Textes eine Rolle spielt. Hoffmann spielt bewusst mit diesen Widersprüchen und lässt entscheidende Fragen offen, wie ob Coppelius und Coppola tatsächlich dieselbe Person sind. Der Erzähler unterstützt diese Unsicherheit, indem er beide Figuren oft so darstellt, als wären sie identisch. Die Ambivalenz ist typisch für die Romantik und somit bewusst gesetzt. Die zwei zentralen Sichtweisen in Der Sandmann sind beide gleichberechtigt und repräsentieren den Dualismus von Vernunft und Wahnsinn.
Mit der Figur Nathanael wird in Der Sandmann gezeigt, dass Erinnerungen an die Vergangenheit einerseits prägend und zugleich auch verzerrend sein können. Die traumatischen Kindheitserlebnisse, die er mit der Figur des Advokaten Coppelius verbindet, beeinflussen seine Wahrnehmung in der Gegenwart so stark, dass er den Wetterglashändler Coppola zwangsläufig als Bedrohung wahrnimmt. Hoffmann zeigt, dass Erinnerungen nicht objektiv, sondern immer auch subjektiv gefärbt sind und stark durch emotionale Erfahrungen geprägt werden. Bei Nathanael werden diese Erinnerungen so verarbeitet, dass sie sein aktuelles Weltbild stützen und gleichzeitig seine Ängste verstärken. Schlussendlich befindet sich Nathanael in einem Teufelskreis, der seine Wahrnehmung immer wie mehr verzerrt.
Erinnerungen an vergangene Ereignisse sind nämlich weitaus mehr als nur Rückblicke auf Vergangenes. Sie prägen uns, formen unsere Persönlichkeit und helfen uns, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Dabei lässt sich die Frage stellen, ob diese Prägung immer positiv ist oder ob sie unsere Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung verzerren kann, wie es bei Nathanael der Fall ist. Laut neueren Erkenntnissen ist unser Gehirn nicht nur für die Vergangenheit, sondern primär für die Zukunft geschaffen. Es simuliert aus vergangenen Erfahrungen mögliche Szenarien, um zukünftige Ereignisse vorherzusehen. Diese Szenarien sind jedoch keine exakte Realität, sondern Konstruktionen. Diese lösen bestimmte Erwartungen in uns aus und beeinflussen somit unsere Wahrnehmung. Wir nehmen selektiv das wahr, was wir erwarten oder nicht erwarten.
Wie Nathanael in Der Sandmann zeigen auch wir Spuren von Ereignissen aus unserer Vergangenheit in der Gegenwart. Dabei werden Ereignisse, die besonders prägend waren, als sogenannte «Erinnerungsinseln» in unserem Gehirn abgespeichert. Sie erhalten ihren besonderen Wert dadurch, dass unser Gehirn aktiv filtert: unwichtige oder weniger relevante Erinnerungen verblassen mit der Zeit, oft abgerufene oder emotional bedeutsame Erinnerungen verankern sich. Erinnerungen, die prägender waren als andere, üben dabei einen grösseren Einfluss auf unsere Wahrnehmung aus. Dabei kann es sich sowohl wie bei Nathanael um negative als auch um positive Ereignisse handeln.
Verankerte Erinnerungen bleiben jedoch nicht immer unverändert. Unser Gedächtnis kann uns tatsächlich auch täuschen. Erinnerungen sind keine unveränderlichen Fakten, sondern von unserem Unterbewusstsein wandelbare Narrative. Dies ist dadurch zu erklären, dass unsere Wahrnehmung selektiv arbeitet und unsere Gedächtnisinhalte möglichst sinngemäss ständig neu verknüpft und interpretiert und passend mit unseren gegenwärtigen Überzeugungen übereinstimmt. Somit lässt sich zeigen, dass unser Gedächtnis nicht nur als Speicherort für unsere Erinnerungen dient, sondern aktiv daran beteiligt ist, wie wir aus der objektiven Wirklichkeit unsere subjektive Realität konstruieren und die Realität und die Wirklichkeit nicht immer identisch sind. So können wir uns zum Beispiel an Ereignisse erinnern, die nicht exakt so stattgefunden haben, die aber von unserem Gehirn so angepasst wurden, dass sie für uns im Hier und Jetzt Sinn ergeben. Wie Nathanael durch die Schatten seiner Kindheit beeinflusst wird, prägen uns alle unsere Erinnerungen – sei es als Hilfe oder Hindernis.
Quellen:
E.T.A. Hoffmann (2003): Der Sandmann. Text und Kommentar. Kommentiert von Peter Braun. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Knobel, Michael. Virtuoses Spiel. Bildnis E.T.A. Hoffmann (Farblithografie, 1999). Reproduktion aus der Staatsbibliothek Bamberg, Signatur VI E 346td/28. Mit Genehmigung der Staatsbibliothek Bamberg.
https://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/06/erinnerung-gedaechtnis-erlebnisse