Respire – Wenn Freundschaft die Luft zum Atmen nimmt

19. Mai 2025

In diesem Blogbeitrag setze ich mich mit dem Roman Respire von Anne-Sophie Brasme auseinander und gehe der Frage nach, was eine gesunde Freundschaft ausmacht – und woran man erkennt, wenn sie ins Ungleichgewicht gerät.

Ein Blogeintrag von Lara Serin

Bild: generiert von KI (ChatGPT)

Im Rahmen einer SOL-Sequenz im Französischunterricht habe ich das Buch Respire von Anne-Sophie Brasme gelesen – ein französisches Buch, veröffentlicht im Jahr 2001. Die fachlichen Ziele dieser SOL-Sequenz waren es, selbstständig ein literarisches Werk auf Französisch zu lesen und zu verstehen. Im weiteren Verlauf musste man eine aufschlussreiche Textstelle auswählen und diese nach bestimmten Kriterien analysieren und vorbereiten. Abschliessend wurde das Werk in einem 10–15-minütigen Einzelgespräch auf Französisch geprüft. In diesem Gespräch musste man die Analyse der ausgewählten Textstelle vortragen. Die Anforderung bestand darin, die von der Lehrperson gestellten Fragen beantworten sowie auf Einwände reagieren zu können. Grundsätzlich diente das Gespräch der Vorbereitung auf die mündliche Maturaprüfung.

Der Roman beginnt mit einem Monolog der 17-jährigen Charlène. Sie sitzt im Gefängnis; rückblickend erzählt sie, wie es so weit kommen konnte. Charlène ist eine eher stille, unsichere Jugendliche, die sich in vielen Lebensbereichen nicht wirklich zugehörig fühlt – weder in ihrer Familie noch in der Schule, nicht einmal in sich selbst findet sie sich – sie fühlt sich überall fehl am Platz. Ein Mädchen namens Sarah kommt neu in ihre Klasse, und Charlène ist sofort fasziniert von ihr. Sarah wirkt offen, selbstbewusst, unabhängig – all das, was Charlène sich selbst wünscht zu sein. Die beiden freunden sich schnell an, und Charlène richtet immer mehr von ihrem Denken und Fühlen auf Sarah aus. Die Freundschaft wird für sie lebenswichtig – fast wie das Atmen. Mit der Zeit distanziert sich Sarah jedoch, wird abweisend, sarkastisch und kontrollierend. Für Charlène ist es unvorstellbar, die Beziehung zu hinterfragen. Statt sich von Sarah und der Freundschaft zwischen ihnen abzugrenzen, klammert sie sich noch stärker daran. Ihre Selbstwahrnehmung geht zunehmend verloren – sie ist dabei, sich selbst zu verlieren. Sie erkennt nicht, dass die Freundschaft längst nicht mehr gesund ist, oder will es – besser gesagt – nicht wahrhaben. Ihre emotionale Abhängigkeit wird so stark, dass sie irgendwann keinen anderen Ausweg mehr sieht, als Sarah umzubringen. Charlène begeht den Mord an Sarah nicht aus Hass, sondern vielmehr aus innerer Verzweiflung, für eine Erlösung. Es stellt sich somit die grundlegende Frage: Was macht eine Freundschaft gesund – und wie kann daraus emotionale Abhängigkeit entstehen?

Was macht eine Freundschaft gesund – und wie kann daraus emotionale Abhängigkeit entstehen?

Nachdem ich den Roman gelesen hatte, stellte ich mir selbst die Frage: Was macht eine gesunde Freundschaft eigentlich aus? Eine gesunde Freundschaft ist eine zwischenmenschliche Beziehung, die auf Gegenseitigkeit, Vertrauen, Freiheit, Ehrlichkeit, Unabhängigkeit, Wohlwollen, Konfliktfähigkeit und Unterstützung beruht. Für mich gibt es in einer gesunden Freundschaft kein Machtgefälle, beide Seiten fühlen sich ernstgenommen, man hört einander zu, zeigt Interesse und unterstützt einander – man gibt und nimmt gleich viel. Man kann sich aufeinander verlassen, es ist möglich offen über die eigenen Gedanken Gefühle und Probleme zu reden – ohne sich dabei beängstigt zu fühlen. Jeder darf seinen eigenen Raum haben – unter der Bedingung, dass die Freundschaft nicht darunter leidet. In einer gesunden Freundschaft ist Nähe möglich, ohne dass man sich gegenseitig erdrückt. Man gönnt einander Erfolge und ist ehrlich froh für die andere Person. Es gibt keine Eifersucht, ständigen Vergleich oder passiv-aggressives Verhalten. Meinungsverschiedenheiten dürfen sein. Man kann streiten, sich entschuldigen, reflektieren – und gemeinsam daran wachsen. Man ist füreinander da – in guten, sowie auch in schweren Zeiten.

Und wie kann sich daraus emotionale Abhängigkeit formen und wie macht sich diese Abhängigkeit eigentlich bemerkbar? Emotionale Abhängigkeit entsteht meist nicht plötzlich, sondern entwickelt sich schrittweise – oft unbemerkt. Sie beginnt häufig mit einer tiefen Bewunderung für die andere Person. Man fühlt sich verstanden, wahrgenommen und vielleicht zum ersten Mal wirklich „gesehen“. Gerade wenn man – wie Charlène – mit sich selbst hadert oder sich einsam fühlt, kann so eine Verbindung schnell lebenswichtig erscheinen. Doch aus dieser Nähe kann sich ein Ungleichgewicht entwickeln. Man beginnt, die andere Person über sich selbst zu stellen, orientiert sich in Gedanken und Entscheidungen nur noch an ihr. Die eigenen Bedürfnisse rücken in den Hintergrund. In Respire zeigt sich das daran, dass Charlène sich immer stärker an Sarah anpasst, ihre Stimmung völlig von Sarahs Verhalten abhängig macht und zunehmend die Fähigkeit verliert, unabhängig zu denken oder zu fühlen. Emotionale Abhängigkeit macht sich also bemerkbar, wenn man das Gefühl hat, ohne die andere Person nicht mehr „funktionieren“ zu können. Wenn das eigene Selbstwertgefühl nur noch durch die Aufmerksamkeit oder Anerkennung dieser einen Person definiert wird. Oder wenn man sich selbst zurücknimmt, nur um Konflikte zu vermeiden und die Beziehung, um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Aus der ursprünglichen Freundschaft wird dann keine gegenseitige Verbindung mehr, sondern ein inneres Gefängnis – oft still, oft unsichtbar, aber sehr wirksam.

Quellen:

  • Brasme, Anne-Sophie. Respire. Le Livre de Poche, 2002.

  • Französischunterricht Nathalie Martin, Gymnasium Kirchenfeld